TTIP und Freies Wissen: Wie das Handelsabkommen (wahrscheinlich) die Zusammenarbeit auf Wikipedia bedroht


Versiegelter Leseraum im Europäischen Parlament für Dokumente der TTIP-Verhandlungen. Anfangs war der Bereich nur wenigen Mitgliedern des Europäischen Parlaments zugänglich. Foto von Greensefa, CC BY 2.0.

Seit zwei Jahren verhandeln die Europäische Union und die Vereinigten Staaten ein neues Handelsabkommen hinter verschlossen Türen.  Das Transatlantische Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) soll angeblich “ein Drittel des globalen Handels liberalisieren”. Sicher ist das jedoch nicht.  Wir haben bereits durch ein ähnliches Abkommen namens TPP (Trans-Pacific Partnership) Еrfahrung mit geheimen Verhandlungsprozessen gesammelt.

Herauszufinden wie es um die Verhandlungen steht, ist ungefähr so als versuche man auf einem Kindergeburtstag zu klären, wer in wen verknallt ist – es braucht einiges an Klatsch und Tratsch um die richtigen Vermutungen anstellen zu können. Was die TTIP-Verhandlungen angeht, ist das Informationsdefizit allerdings nicht einfach nur zufällig, es ist geplant. Während eines Treffens mit der Zivilgesellschaft im Jahr 2013 beantwortete der Vertreter der Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission die Frage nach mehr Transparenz lakonisch: “Es wird Leaks geben.”

Tatsächlich sind Leaks sowohl für BeamtInnen als auch für Außenstehende ein bequemes Instrument. So lassen sich gezielt Informationen an die Öffentlichkeit bringen, ohne die Restriktionen der offiziellen Kanäle und ohne dazu Stellung nehmen zu müssen. Das ständig wiederholte Mantra in Brüssel heißt: “Die Kommission kommentiert keine Leaks.”

Was uns bekannt ist

Wir kennen die Ausgangsposition der Kommission zum Immaterialgüterrecht dank einer offiziell veröffentlichten Stellungnahme. In den Verhandlungen hat sie sich drei Ziele gesetzt: 1) Entlohnungrechte für Interpreten, 2) Rechte über öffentliche Aufführungen für AutorInnen und 3) Wiederverkaufsreche für Kunstschaffende. Die Zielsetzung ist zwar äußerst einseitig, aber zumindest bekannt.

Im Juni 2015 hat dann das Europäische Parlament eine unverbindliche Verhandlungsempfehlung an die Kommission geschickt. Diese beinhaltet begrüßenswerte Aussagen über Datenschutz und gegen Massenüberwachung. Eine Forderung, Immaterialgüterrechte aus TTIP heraus zu halten, wurde aber von den Mitgliedern des EP klar und deutlich abgelehnt. Sprich: Die Mehrheit will solche Punkte im Abkommen sehen.

Leider ist das auch schon alles, was wir ganz sicher wissen. Erwarten können wir allerdings einiges. Die Verhandlungslogik sieht vor, dass Prinzipien aus früheren Handelsabkommen auch für TTIP wieder in Frage kommen. Aus der Perspektive des Freien Wissens und der Digitalen Bürgerrechte heißt dies, dass wir uns das Transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) und das Abkommen zwischen Kanada und der EU (CETA) genau ansehen müssen.

Projekte des Freien Wissens wie die Wikipedia würden nicht bestehen, wenn Benutzer Informationen nicht einfach teilen und Werke der Wissensallmende nicht rechtssicher nachgenutzt werden könnten. Daraus und aus der bereits beschriebenen Verhandlungslogik erschließen sich drei Linien, die wir während den Verhandlungsrunden verfolgen müssen:

  1. Ein zusätzliches, in internationalen Verträgen festgehaltenes, Recht auf temporäre Kopien würde mit der einzigen EU-weiten Schranken im Urheberrecht kollidieren und hätte das Potential, Netzwerktechnologien zu drosseln und die Verbreitung von Information einzuschränken.
  2. Ein internationales Abkommen, das die Schutzdauer des Urheberrechts auf Lebenslang plus 70 Jahre fixiert, würde es für die nächsten hundert Jahre praktisch undenkbar machen, die heute gültige EU-Richtlinie zu revidieren und die Schutzfristlänge auf das Berner Konventionsminimum von Lebenslang plus 50 zurückzuschrauben.
  3. Eine zusätzliche Maßregelung der Umgehung von Technologien zur Digitalen Rechteverwaltung (DRM) würde den Zugang und die Nachnutzung von Wissen erschweren, selbst wenn diese durch Schranken und Ausnahmen klar erlaubt ist.

Diese Punkte sind entweder in TPP oder den CETA-Entwürfen enthalten. Sie werden sicherlich auch während der TTIP-Verhandlungen vorgeschlagen.

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TTIP Vehandlungsdokument im Europäischen Parlament. Foto von Dimitar Dimitrov, public domain/CC0.

Effektive Verhandlungen und demokratische Legitimation

Bei allen internationalen Verhandlungen gibt es zwei zulässige, sich allerdings gegenüberstehende Forderungen: Die Verhandlungsteams haben das Ziel, die bestmöglichen Ergebnisse für die jeweils eigene Seite zu erreichen. Um dies tun zu können, fordern sie auch die Möglichkeit, vertraulich und in Ruhe (sprich abseits der Öffentlichkeit) verhandeln zu dürfen. Gleichzeitig muss die Öffentlichkeit aber rechtzeitig darüber informiert sein, was denn nun vereinbart wird, und genügend Zeit haben, zu reflektieren und zu reagieren.

Ebenfalls wird oft betont, dass diskrete Verhandlungen schneller und effektiver geführt werden können. Und während das Gegenteil schwer nachzuweisen ist, erscheint die Geheimhaltung – wie bei TPP erlebt und jetzt bei TTIP wiederholt betrachtet – sehr kurzsichtig. Der Druck im Verhandlungsraum wird zwar abgebaut, aber das öffentliche Misstrauen steigt, womit auch die Legitimation sinkt.

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs musste 2011 das öffentliche Interesse und die Verhandlungseffizienz abwägen. Obwohl der Fall sich um die Gesetzgebung der Eruopäischen Union drehte, kann die Begründung der Richter für mehr Offenheit zu urteilen universell gelesen werden. Demnach gehört es “zum Wesen einer demokratischen Debatte, dass ein Verhandlungsangebot […] Gegenstand sowohl positiver als auch negativer Kommentare seitens der Öffentlichkeit oder der Medien sein kann.”

Die Logik der Leaks

Leaks erscheinen uns manchmal wie eine gutes Pflaster um die klaffende Lücke zwischen den Forderungen der Verhandlungsführer und dem öffentlichen Druck nach Information zu flicken. Sie haben allerdings auch große Nachteile: Leaks sind kein rechtliches Konzept und stehen somit außerhalb des demokratischen Prozesses. Sie sind oft sehr unzuverlässige Quellen und verursachen Missverständisse aufgrund ihrer Unvollständigkeit. Statt Vertrauen zu schaffen sind sie oft nur Anlass zu Misstrauen.

Wir haben bisher Freies Wissen und digitale Bürgerrechte aus TTIP-Kampagnen heraus gehalten. Der Hauptgrund dafür ist, dass wir eben nur fast sicher sein können worüber genau verhandelt wird. Kampagnen ohne handfeste Beweise sind kontraproduktiv.
Besorgniserregend ist, dass je später die Inhalte öffentlich werden, desto kleiner die Möglichkeit ist Einfluss zu nehmen. Bei inakzeptablen Passagen im Text hieße dies, dass manche Interessenvertreter am Schluss vor einer Alles-oder-Nichts-Situation gestellt werden. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für ein “ambitioniertes Handelsabkommen”.

Dimitar Dimitrov, Project Lead
Free Knowledge Advocacy Group EU

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